© Sr. Elisabeth Bäbler

Das Kreuz von San Damiano

Das Kreuz von San Damiano ist eine mittelaterliche Ikone, die zu Franz von Assisi geprochen haben soll.

Der Begriff „Kreuz von San Damiano“ bezeichnet eine Ikone in Kreuzform, das zur Zeit der Bekehrung des heiligen Franz von Assisi in der kleinen Kirche unterhalb Assisis hing. Eine Kopie davon ist dort bis heute zu sehen. Das Original hängt inzwischen in einer Seitenkapelle der Basilika Santa Chiara in Assisi.
Laut seinen ersten Biographen hat Franziskus vor diesem Kreuz im Jahr 1206 sein zentrales Bekehrungserlebnis gehabt. Christus soll ihn vom Kreuz aus angesprochen und ihm den Auftrag gegeben haben „Geh und baue meine Kirche wieder auf“.

Das Kreuz als Ikone

Das Kreuz ist genauer betrachtet eine Ikone in Kreuzform. Ikonen spielen in der Ostkirche und in den orientalischen Kirchen auch heute noch eine zentrale Rolle in der Verkündigung. Sie sind Theologie in Bildern. Jede Einzelheit hat eine Bedeutung. Sie arbeiten mit einer Bildsprache, die den Betrachtern in den orthodoxen Kirchen nach wie vor geläufig ist. Man spricht von Ikonen schreiben, nicht von Ikonen malen, denn wer ihre Sprache versteht, kann sie lesen, wie wir einen Text lesen können.
In den kommenden Monaten möchten wir auf dieser Seite jeweils auf einen Aspekt dieses Kreuzes eingehen und eine kleine Meditation dazu veröffentlichen.

Hintergrundinformationen

Die Ikone wurde höchstwahrscheinlich von syrischen Mönchen in der Nähe von Spoleto etwa 40 km südlich von Assisi gemalt. Diese hatten sich im 8./9. Jahrhundert nach Monteluco, in die Hügel oberhalb Spoletos geflüchtet und dort ein Kloster gegründet. Grund dafür war der sogenannte Ikonoklastenstreit, der im östlichen Teil der Kirche zeitweise zu einem Bilderverbot und zu massiven Anfeindungen den Klostergemeinschaften gegenüber geführt hat.  Grund der Aueinandersetzung waren vor allem zwei Fragen: ob eine Verehrung von Ikonen zulässig sei, und ob überhaupt das Schreiben einer Ikone mit der Darstellung von Christus erlaubt sei. Die Ostkirche und die Westkirche hatten sich unterschiedlich entwickelt, waren zu dieser Zeit aber noch nicht getrennt.Es war daher naheliegend für verfolgte Klostergemeinschaften in den westlichen Teil des Reiches zu flüchten, denn in der Westkirche bestand kein Bilderverbot.

Deutung

Die Ikone wird von unten nach oben gelesen. Sie stellt die Kar- und Osterzeit dar, von Gründonnerstag bis Pfingsten.
Sie ist eingefasst von vier Rahmen
Der erste äußerste Rahmen besteht aus Muscheln, genauer gesagt Jakobsmuscheln, ein Symbol der Pilger. Sie erinnern den Betrachter daran, dass er noch unterwegs ist, dass er das Ziel, auf das das Bild zuläuft, das Paradies, noch nicht erreicht hat.  Er ist in der Hoffnung unterwegs, es eines Tages zu erreichen. In diesem Sinn kann das Kreuz als Hoffnungskreuz bezeichnet werden: Es zeigt uns in vielen Einzelheiten den letzten Grund unserer Hoffnung.

Auf den Muschelrahmen folgen drei Linien, eine in Gold, eine in Rot und eine in Schwarz. Gold steht für Herrlichkeit: Die endgültige Erlösung und die Fülle des Lebens, die sich aus der Gottesbeziehung speist. Die Heiligenscheine werden in Gold gehalten und das Blattgold ist das Erste, was man beim Schreiben einer Ikone aufträgt. Man geht sozusagen von der Verheißung der Fülle aus. Wir sind schon in dieser Herrlichkeit, wir sind schon erlöst und mit der Taufe in eine lebendige Gottesbeziehung hineingenommen. Von Gott her ist die Beziehung unverbrüchlich.
Rot steht für Geist – deshalb sind an Pfingsten die Gewänder der Priester rot. In der Antike wurde das Blut als Träger des Lebens gesehen. In der Schöpfungsgeschichte wird der Geist als lebendiger Atem beschrieben, den Gott dem Menschen eingehaucht hat. Der Geist ist es, der uns in die volle Wahrheit einführen will und der uns erlaubt, die Zeichen der Erlösung auch mitten in unserem unvollkommenen Alltag zu erfahren.

Ikone der AuferstehungDamit sind wir bei der Farbe Schwarz: Sie steht für Tod, für Lebensfeindlichkeit, für das Böse. Man trifft sie in den Ikonen selten, am eindrücklichsten in den Auferstehungsikonen, in denen Christus die Menschen aus der Unterwelt befreit. In dieser Kreuzesikone hat sie eine zweifache Bedeutung: Sie grenzt die einzelnen Szenen voneinander ab und sie erinnert uns daran, dass wir dieses Kreuz immer aus einer Perspektive des schon und noch nicht betrachten. Wir sind schon erlöst, aber die Erlösung hat unter Umständen noch nicht vollständig in uns Fuß gefasst, wir erleben vielleicht gerade eher Leid und Unsicherheit. Darin gibt uns die Ikone ein erstes Hoffnungszeichen.

Christus steht aufrecht, er hängt nicht, sondern er steht auf dem Schwarz. Die theologische Aussage dahinter ist: Christus hat den Tod überwunden, der Tod, das Leid hat nicht das letzte Wort.

Die Figuren im untersten Bereich des Kreuzes

Am Fuß des Kreuzes sieht man eine Reihe von Figuren. Da das Kreuz wahrscheinlich über lange Jahre in einem Ständer stand, sind diese etwas „abgeschabt“ und nicht mehr gut erkennbar.

Es gibt zwei Auslegungsvarianten für diese Figuren. Die einen interpretieren sie als die Heiligen, denen das Kirchlein San Damiano gewidmet ist: Kosmas und Damian. Einige Forscher betrachten es als eine Darstellung des letzten Abendmahls[1]. Ich tendiere eher zur zweiten Variante, da es mehr als zwei Figuren sind. Das Kreuz folgt in seinem Aufbau dem Evangelium nach Johannes, die Reise beginnt am Fuß des Kreuzes mit der Fußwaschung (Joh 13) und endet im oberen Teil mit Pfingsten. In der Szene der Fußwaschung, die im Johannesevangelium an der Stelle des letzten Abendmals steht  wird auch die Brücke zum nächsten kleinen Bild geschlagen.

Fast unbemerkt und – je nach Größe des Kreuzes auch unsichtbar – kann man rechts unter dem Knie einen kleinen Vogel entdecken (im Bild rot eingezeichnet). Er stellt den Hahn dar, der an den Verrat des Petrus erinnert. Petrus hatte vollmundig verkündet, bereit zu sein, sein Leben für Jesus hinzugeben. Er hatte auch, laut dem Johannesevangelium, versucht, Jesus bei der Festnahme im Garten Getsemani zu verteidigen, indem er das Schwert zog und einem der Diener des Hohepriesters das Ohr abschlug. Im Hof des Hohepriesters leugnet Petrus Jesus zu kennen. Wäre er hier als jener erkannt worden, der einen der Diener jenes Mannes, in dessen Vorhof er gerade steht, verletzt hatte, hätte das durchaus ernsthafte Konsequenzen für Petrus haben können. In diesem Sinne ist es mutig von ihm, sich überhaupt so weit vorzuwagen, und Jesus in eine Situation zu folgen, die für Petrus gefährlich werden könnte. Als nun aber die Gefahr durch die Fragen der Türsteherin, der Umstehenden am Feuer und dem Verwandten dessen dem er das Ohr abgeschlagen hat, real wird, scheint ihm seine eigene Sicherheit wichtiger.

Die Szene im Vorhof des Tempels hat eine direkte Verbindung zur Szene, die sich nach der Auferstehung am Ufer des Sees in Galiläa abspielt (Joh 21). Nach einer Nacht mit fruchtlosen Versuchen des Fischfangs und einem unerwartet reichen Fischfang am frühen Morgen treffen die Jünger Jesus am Ufer des Sees. Jesus nimmt Petrus beiseite und fragt ihn dreimal, ob er ihn liebe. In der deutschen Übersetzung ist die Tragweite der Fragen und die enge Beziehung zwischen der Verleugnung im Vorhof des Hohepriesters nicht zu erkennen, da hier zwei unterschiedliche Begriffe mit demselben Wort übersetzt werden.

Im Griechischen gibt es drei Worte für Liebe: eros, agape, filia. Eros ist die leidenschaftliche Liebe und fällt hier weg. Mit den anderen beiden spielt der Autor des Johannesevangeliums.

Agape ist die hingebende Liebe, jene die das Wohl des Andern im Blick hat, und, je nachdem, tatsächlich so weit gehen kann, dass man das Wohl des Anderen über das eigene stellt. In der Bibel wird dieser Begriff normalerweise gebraucht, um die Liebe Gottes dem Menschen gegenüber auszudrücken. Erst in zweiter Linie wird er auf die Liebe des Menschen Gott und seinen Mitmenschen gegenüber bezogen.  Für das Liebesgbot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen nutzt der Autor aber immer den Begriff agape/agapein. Wenn Petrus beteuert, sein Leben für Jesus hingeben zu wollen, drückt er damit aus, dass er agape – hingebende Liebe – für Jesu empfindet. Und genau danach fragt Jesus, als er ihn am Ufer des Sees von Galiläa trifft.

Petrus antwortet mit einem anderen Wort: philia. Es bedeutet freundschaftliche Liebe oder Zuneigung, die wir empfinden, wenn wir jemanden mögen oder gernhaben

Das Spannende an diesem Dialog ist, dass Jesus Petrus Schritt für Schritt entgegenkommt. Etwas anders und frei übersetzt könnte der Dialog lauten:

Petrus, liebst du mich mehr als die andern mich lieben?

Herr, du weißt, ich mag dich.

Petrus, liebst du mich?

Herr, du weißt, ich mag dich.

Petrus, magst du mich.

Herr, du weißt alles, du weißt, dass ich dich mag.

Petrus wird im Johannesevangelium als jemand gezeigt, der, im Gegensatz zum „Jünger, den Jesus liebte“ einer Idealfigur, sichtbare Schwächen hat und sich dieser im obigen Dialog schmerzhaft bewusst ist. Damit wird er menschlich und jeder von uns kann sich wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad mit ihm identifizieren.

Die Hoffnungsbotschaft für uns ist, dass Jesus auch gar nicht von ihm (und damit auch von uns) verlangt, anders oder besser zu sein. Wie oben gesagt: Mit agape wird vor allem die Beziehung Gottes zu uns beschrieben. Gott ist sich bewusst, dass unsere Liebe oftmals nicht über das Mögen (= philia) hinauskommt, begegnet uns trotzdem weiter mit Liebe – Agape und Freundschaft.

[1] Es gibt noch eine dritte von Helmut Feld, Kirchengeschichtler aus Tübingen, der die Figuren als die Verdammten interpretiert, die durch das Blut Jesu, das auf sie heruntertropft erlöst werden. Dem widerspricht die Tatsache, dass die Figuren Heiligenscheine haben. Sie ist daher in der Forschung nicht weiter aufgenommen worden.

Die Figuren unter dem Kreuz

Grundlage dieser Ikone ist das Johannesevangelium. Aus diesem Grund finden wir auch die Personen, die dort beschrieben sind unter dem Kreuz. Sie stehen auf einem goldenen Grund – als einzige aller Personen, die auf der Ikone abgebildet sind – denn sie sind schon in voller Gemeinschaft mit Christus.

Wie schon weiter oben gesagt, hat jedes Detail der Ikone eine Bedeutung. So stehen die Farben der Kleidung der Figuren für verschiedene Arten zu lieben. Von links nach rechts sehen wir als erste Maria. Ihr dunkelroter Überwurf steht für die hingebende Liebe. Sie hat sich Gott nicht fraglos, aber mit ihrer ganzen Person zu Verfügung gestellt und ist ihrem Sohn bis unters Kreuz gefolgt. Das weiße Tuch, das den Kopf bedeckt, ist Zeichen für Reinheit.

Neben ihr steht Johannes, in einen rosa Überwurf gehüllt. Dieser steht für geistgewirkte, weise Liebe. Um dies zu verstehen, muss man etwas weiter ausholen. Im Johannesevangelium gibt es zwei Stellen, wo die im griechischen Text paralleldieselben Worte benutzt werden sind, diese aber unterschiedlich übersetzt werden. Wir finden sie in Joh 1,18 und Joh 13, 23. In beiden finden wir den Ausdruck ton kolpon, das bedeutet: am Herzen von, im Schoß von… Kolpos bezeichnete ursprünglich einen Beutel, den man unter dem Gewand trug und in dem das, was man an Kostbarem hatte, aufbewahrte. Später wurde es in geistig/geistliche übertragenen Sinne benutzt und bezeichnete das Innerste eines Menschen, den Ort an dem die zentralsten Gedanken und Überzeugungen „aufbewahrt“ wurden. Am Kolpos von jemandem zu sein bedeutet also, Zugang zu den innersten Gedanken und Überzeugungen dieser Person zu haben. In Joh 1, 18 wird das folgendermaßen übersetzt: Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht. Die Voraussetzung dessen, was Jesus verkündet, ist also, sein Ohr am Herzen des Vaters zu haben. Der Jünger, den wir immer mit Johannes bezeichnen, hat in Wirklichkeit im Johannesevangelium keinen Namen und taucht erst im Kapitel 13, an der oben genannten Stelle, das erste Mal auf. Er wird eingeführt als „Jener, der am Herzen Jesu ruht“, „Jener den Jesus liebt“. Er wird heute allgemein als eine Figur interpretiert, die für jeden Jünger Jesu steht. Er tut das, was in Joh 1,18 von Jesus gesagt wird, sein Ohr am Herzen Jesu zu haben, und hat damit Zugang zu seinen innersten Gedanken. Das macht seine Liebe aber vor allem seine Weisheit aus.

Die erste Figur auf der rechten Seite vom Betrachter her gesehen ist Maria Magdalena. Ihr feuerrotes Gewand steht für die leidenschaftliche Liebe. Diese kann zerstörerisch sein, das blaue Übergewand deutet aber an, dass diese Leidenschaft durch die Gnade Gottes geordnet und ausgerichtet worden ist. Blau bedeutet in der Sprache der Ikonen Göttlichkeit.

Neben Magdalena steht Maria, die Mutter des Jakobus. Sie ist eine der Frauen, die mit Jesus und seinen Jüngern unterwegs war und für sie gesorgt hat. Ihr hellrotes Gewand steht für die fürsorgende Liebe.

Die letzte der großen Figuren hat sich sozusagen aus dem Markusevangelium in diese Darstellung geschmuggelt. Es ist der Hauptmann, der unter dem Kreuz im Todesmoment Jesu sagt, dieser ist wahrhaftig Sohn Gottes. In der frühen Kirche wurden drei Personen, die in den biblischen Erzählungen an unterschiedlichen Punkten auftauchen, als dieselbe Person aufgefasst: Der Hauptmann, dessen Sohn Jesus geheilt hat aus dem Johannesevangelium, der Hauptmann unter dem Kreuz und der Hauptmann Cornelius der sich mit seiner Familie als erster Nichtjude zum Christentum bekehrt hat, aus der Apostelgeschichte. Er steht für eine wachsende Beziehung, die sich von der Neugier, über die Beobachtung zur Erkenntnis entwickelt. Er ist die einzige Person der Evangelien, die Jesus als wahrhaftiger Sohn Gottes bezeichnet. Das kann er, weil er sich auf diese Beziehung eingelassen hat, die zu Beginn sicher fremd war.

Links und rechts der großen Figuren können zwei kleinere erkannt werden. Sie sind im Begriff auf diese goldene Fläche zu kommen. Die Größe der Figur richtet sich in der Ikonenmalerei nicht nach ihrer effektiven Größe, sondern nach der Wichtigkeit. Beginnen wir mit der kleinen Figur, dievom Betrachter her links zu sehen ist: Es ist der Soldat, der die Seite Jesu durchbohrt. Er hat hier auch einen Namen. Longinus war der Überlieferung nach einer der Soldaten der Italischen Kohorte, die in Jerusalem stationiert war. Diese stammte aus dem Gebiet des heutigen Umbrien. Er soll sich der Legende nach zum Christentum bekehrt haben und wird in Umbrien sehr verehrt. Das ist wohl auch der Grund, dass er hier abgebildet ist. Die Bedeutung der anderen Figur ist umstritten. Sie ist in der Tracht der Juden der damaligen Zeit gekleidet, daher gehen einige Forscher davon aus, es handle sich um einen Repräsentanten des Volkes Israel, das noch auf dem Weg zum Christentum sei. Die andere Erklärung, die gegeben wird ist, dass es sich um den Maler der Ikone selbst handle, der sich hier in seiner Suche mit ins Bild gebracht hat. Beide Figuren können auch als Symbol des Betrachters gelesen werden, der noch nicht in der Fülle der Gottesbeziehung angelangt ist, aber in den großen Figuren ein Hinweis darauf bekommt, wie dies gelingen könnte.